Ganzheitliche Architektur der Zukunft: Die Wertschöpfungskette Bau wird digital


Bauen ist noch immer ein stark handwerklich geprägter Prozess. Darin kann eine außergewöhnliche Architekturqualität im fertigen Bauwerk begründet sein. Doch ist gleichzeitig die händische Ausführung, unter stetig wachsendem Zeit- und Kostendruck, eine nicht minder große Herausforderung. In sich wandelnden, immer stärker digitalisierten Planungs- und Produktionsprozessen innovativ sowie zukunftsfähig zu bleiben, ist daher ein erklärtes Ziel des deutschen Mittelstandes. Hierfür gibt es einerseits klare Zielstellungen und andererseits begleitende Entwicklungen, die den Gesamtlebenszyklus eines Bauwerks vom Planen und Bauen, Betreiben, der Umnutzung bis zum Recycling wertvoller Rohstoffe und Materialien betreffen. Aber nicht alle kennen diese, können sie einordnen und bewerten, welche Kollaborations-Netzwerke bereits vorhanden oder welche Chancen die Zukunft bietet. Unser Beitrag möchte Klarheit verschaffen sowie wichtige prozessbegleitende Meilensteine und Chancen herausstellen.

Bisher hält sich hartnäckig das Vorurteil, dass das Bauen in Deutschland wie vor 200 Jahren aussieht: Stein auf Stein und weitgehend handwerklich wie gleichzeitig analog realisiert. Das stimmt so aber längst nicht mehr. Spätestens mit dem akut herrschenden Fachkräftemangel, der alle Bereiche unseres Alltags – und damit ebenso das Handwerk trifft – hält die Digitalisierung Einzug ins Bauwesen. Hinzu kommen digitale Planungs- und Bauprozesse (BIM, digitale Bestandserfassung, elementiertes Bauen, Vorfertigung, Robotertechnik etc.), die bereits jetzt unsere Baustellen nachhaltig verändern.

Damit der prägende und wichtige Mittelstand und nicht nur die wenigen „Global Player“ der Baubranche von digitalen Entwicklungen profitieren, lernt er aktuell, digitale Planungs- und Bauprozesse für sich anzuwenden. Ein entscheidender Aspekt hierbei ist, die gesamte Wertschöpfungskette Bau zu digitalisieren. Denn die kleinen und mittelständigen Unternehmen sind entlang dieser Kette angesiedelt und hier oft mit individuellen Nischenprodukten und Dienstleistungen vertreten. Damit dieser große Schritt gelingen kann, kommt dem Gebäudelebenszyklus eine wichtige Aufgabe zu. Er ist ein wesentlicher Schlüssel für einen gesunden und diversifizierten Mittelstand in Deutschland.

Der Gebäudelebenszyklus umfasst verschiedene Phasen: 1. Projektentwicklung, 2. Bauprozess, 3. Nutzungsphase, 4. Umbau/Umnutzung/Umgestaltung, 5. Rückbau und Recycling sowie 6. Ressourcenschutz- und Effizienz.

Von der Idee bis zur Ausschreibung – durchgängig digital

Die Projektentwicklung, in die die Konzeptionierung des Bauwerks, der Entwurf und die digitale Planung mit BIM-Methoden fallen, steht vorn im Lebenszyklus. Hier wird idealerweise schon im Architekturkonzept die Basis gelegt, was den optimierten Einsatz von Ressourcen, Bauteilen und Technikausstattung betrifft. Bereits in dieser frühen Phase (und noch ohne jede Baubewegung) kann der Mittelstand gemeinsam mit den Planenden digital wie wertschöpfend zusammenarbeiten. So gibt es verschiedene Planungsprogramme, die vorrangig von mittelständischen Betrieben genutzt werden und die den modellbasierten Datenaustausch über das herstelleroffene IFC-Dateiformat beherrschen. Der Vorteil: Massen und Mengen sind exakt, denn das bisher geläufige „Übermessen“ von Öffnungen im ausgedruckten Plan und mit ungenauem Dreikantmaßstab entfällt. Bereitgestellte IFC-Modelldaten kann ein Bieter direkt in seine Software einlesen und so zum Beispiel die Maler- und Lackierarbeiten sehr präzise und mit geringem Zeitaufwand anbieten. Im Umkehrschluss hilft BIM ebenfalls. Aufwendige Tischlereinbauten beispielsweise erfordern eine hohe Detaillierung der ausführenden Schreinerei. Diese kann dem koordinierenden Architekturbüro seine ausdetaillierte Planung als IFC-Datei zurückspielen und dabei unterstützen, das Gebäudemodell in Richtung „as built“ zu entwickeln.

Neue Werkzeuge nutzen und eigene Netzwerke ausbauen

Der Bauprozess ist der wichtigste Einsatzbereich digitaler Tools für das gesamte Baugewerbe. Hier findet ein Großteil der Wertschöpfung statt. Die Bandbreite digitaler Helfer reicht von robotergestütztem Zuschnitt für den Holzabbund und Vorfertigung über baubegleitendes Aufmaß per Flugdrohne, Werkzeuge für die Erfassung des Baufortschritts bis zum komplett digitalisierten Aufmaß und der Abrechnung von Arbeitsleistungen. Eine Marktstudie, von der Telekom 2021/2022 in Auftrag gegeben, zeigt: Vor allem administrative Prozesse werden im Handwerk digitalisiert. Hinzu kommt unter anderem ein deutlich gewachsenes Bewusstsein für nachhaltige Produktion und Ressourcenschutz, wie die Branchenstudie herausstellt. Ein weiterer Mehrwert, den die Vernetzung und Nutzung von gemeinsamen Projektplattformen und Werkzeugen bietet, ist, dass sich verstärkt Allianzen agiler Mittelständler (zum Beispiel von Bauunternehmen als Projekt-ARGE) bilden. Sie können im Alltag Marktkonkurrenten sein. In Bieter-Allianzen allerdings stehen sie gemeinsam und kompetent für umfassende Leistungen, die jeder für sich allein nicht anbieten könnte.

Den Selbstversuch wagen und das Know-how ausbauen

Der Ausbau der eigenen Fähigkeiten und das Kennenlernen neuer Technologien steht bei den deutschlandweit inzwischen auf mehrere Hundert gewachsenen Maker Spaces und FabLabs im Vordergrund. Neben den wichtigen Bereichen Schule und Lehre, wird hier ebenso das Angebot für das Handwerk, kleine und mittelständische Unternehmen ergänzt. Exemplarisch für die Maker Space-Bewegung ist beispielsweise der Maker Space Rhein-Neckar in Ludwigshafen: Hier können interessierte Laien ebenso wie Unternehmen mit moderner Technik das eigene Know-how ausbauen. Unter anderem stehen computergesteuerte Fräsen, 3D-Drucker, Laserscan- und Lasercut-Technik zur intensiven Nutzung bereit.

Zukunftsfähiger Gebäudebetrieb – nachhaltig und ressourcenschonend

Betrachtet man die Gesamtlebenszykluskosten eines Gebäudes in einer auf 50 Jahre gerechnete Nutzungsphase, erzeugen Konzeption, Planung und Bauprozess lediglich ein Fünftel der Gebäudegesamtkosten (ca. 22 %). Die verbleibenden 78 % entstehen über den Zeitraum von Nutzung und Rückbau. Das zeigte Prof. Uwe Rotermund von der FH Münster und Gründer von Rotermund Ingenieure in seinem Vortrag auf der GEFMA Lounge im Juli 2022 auf. Je nach Datenquelle, Projekt und Betrachtungszeitraum differieren diese Zahlen leicht. Dennoch ändert das nichts daran, dass die Nutzungsphase der wesentliche Kostentreiber in jedem Projekt ist. Für den Mittelstand liegt hier eine große Chance, direkt an den Gebäuden zukunftsfähig zu arbeiten und mit neuen Konzepten nachhaltig sowie ressourcenschonend zu wirtschaften. Als kompetenter Berater können kleine und mittelständige Unternehmen ihr Know-how einbringen, wenn es um die Optimierung von technischen Anlagen oder die Wartung von Gebäudetechnik geht. Digitale Werkzeuge helfen hier erneut, Prozesse schlank und effizient zu gestalten. Das Internet der Dinge (IOT) ermöglicht, dass sich Bauteile per Fernwartung am Rechner im Büro überprüfen lassen oder technische Spezifikationen und anstehende Wartungen mithilfe von QR-Gerätecodes einfach vor Ort abgeglichen werden können. Das Smartphone des Technikers erkennt das Bauteil dann anhand des einmaligen Codes. In einer hinterlegten Datenbank sind anschließend die Spezifikationen und letzten Wartungen einsehbar. Darüber hinaus lassen sich so Bilder und Daten zügig verwalten – ohne den antiquierten analogen Rapportzettel hervorzuholen.

Andere Wege gehen und zukunftsfähige Geschäftsfelder entdecken

Die vorgenannten Beispiele verdeutlichen, dass der Gebäudelebenszyklus eine Fülle von Optionen für kleine und mittelständige Unternehmen bietet, digital und effizient neue Wege zu beschreiten. Und selbst der Rückbau eines Gebäudes bedeutet eine Fülle von Chancen, eigene Geschäftsmodelle zu entwickeln. Laut Umweltbundesamt sind Bauabfälle für ca. 60 % aller Abfälle verantwortlich, die jährlich in Deutschland anfallen. Hinzu kommt, dass zwischen 10 und 15 % der Bauprodukte bereits falsch bestellt werden, dann in Lagern verstauben oder direkt in den Müll wandern.

Digitale Planungsmethoden wie BIM, die früh Sicherheit bei Massen und Mengen schaffen, eine umfassende Ökobilanzierung und die Erfassung von Materialbeständen in Datenbanken sind aber möglich – zum Schutz von Ressource und Umwelt. Ein aktuelles Beispiel, wie die Zukunft mit „Urban Mining“  in unseren Städten und Gemeinden aussehen könnte, ist die Stadt Heidelberg. In dem Projekt „Circular City – Gebäude-Materialkataster für die Stadt Heidelberg“, soll der gesamte Gebäudebestand ökonomisch und ökologisch analysiert und in einem digitalen Materialkataster zusammengefasst werden. Der Nutzwert ist enorm. Denn mit dem Abriss eines Hauses steht eine Unmenge an Baumaterial, Baustoffen und weitgehend intakter Bauteile zur Verfügung, die für neue Projekte oder anstehende Sanierungen weitergenutzt werden können.

Vor allem regional ansässige Unternehmen könnten von einem cleveren Recycling, dem „Urban Mining“ in der eigenen Stadt, profitieren. Sein Unternehmen auf den zirkulären Einsatz von Rohstoffen zu spezialisieren, mithilfe digitaler Werkzeuge zur Bestandserfassung, mit 3D-Scan, Materialsichtung, Bewertung, Katalogisierung und Weiternutzung die Ökobilanz von Bestand und Neubau nachhaltig zu verbessern – das bedeutet ein riesiges Geschäftspotenzial für viele kleine und mittelständige Unternehmen.


15.11.2022