Herr Dr. Bergmann, Kreislaufwirtschaft ist ein Thema, das die Bau- und Immobilienbranche in den nächsten Jahren bewegen wird. Was bedeutet das für kleine und mittlere Unternehmen?
Dr. Patrick Bergmann: Ich bin überzeugt, dass sich alle Unternehmen – unabhängig von der jeweiligen Größe – in absehbarer Zeit mit der Kreislaufwirtschaft auseinandersetzen müssen. In diesem Zusammenhang wird die Beschäftigung mit Materialien, Bauteilen und Fügetechniken weit stärker im Fokus stehen als bisher. Es mag zwar noch eine Weile dauern, bis auch kleine und mittlere Unternehmen hierzu Stellung beziehen müssen. Doch dass dies in absehbarer Zeit der Fall sein wird, steht bereits fest. Da sich viele Prozesse im Zuge der weiteren Entwicklung ändern werden, ist es zudem ratsam, dass sich die Branche schon jetzt gedanklich mit dem Thema Kreislaufwirtschaft auseinandersetzt – denn was die Veränderungen für die davon betroffenen Unternehmen bedeuten, lässt sich nicht von heute auf morgen lernen. Ausschlaggebend hierfür ist unter anderem die Digitalisierung, ohne die eine kreislauffähige Bau- und Immobilienbranche nicht möglich sein wird. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, müssen sich die betroffenen Unternehmen damit intensiver befassen, als es aktuell der Fall ist. Ich gehe sogar davon aus, dass Unternehmen, die nicht kreislauffähig denken bzw. arbeiten und nicht digital denken bzw. arbeiten, ab einem bestimmten Zeitpunkt keine Aufträge mehr erhalten werden.
Wie kann dann Digitalisierung konkret zur Förderung der Kreislaufwirtschaft beitragen?
Kreislaufwirtschaft hat immer auch mit Dokumentation zu tun. Schließlich muss das, was wir eingebaut haben, zwangsläufig irgendwo festgehalten werden. Da wir hierzu keine Archive voller Aktenordner anlegen und pflegen wollen, erfolgt die Dokumentation heutzutage notwendigerweise digital. Entsprechend wird das digitale Planen und Bauen, etwa mit Hilfe von BIM, künftig ein unabdingbarer Teil der Kreislaufwirtschaft sein. Das klingt natürlich zunächst nach hohem Aufwand und viel Arbeit, sollte aber unbedingt als Chance gesehen werden: Digitales Planen und Bauen wird so manches vereinfachen. Es wird Prozesse erleichtern und effizienter machen und auch für kleine und mittlere Unternehmen zu Benefits und Einsparungen führen.
Der Madaster Materialpass ist ein digitales Instrument für mehr Transparenz im Bereich zirkuläres Planen und Bauen. Wie funktioniert der Materialpass genau?
Ein Materialpass – korrekterweise Gebäudepass genannt – listet auf, welche Gebäudeteile vom Fundament bis zum Dachfirst in einem Bauwerk verbaut wurden: Materialien, Anzahl, Volumen. Diese Auflistung basiert wiederum auf den digitalen Informationen, die mit Hilfe des digitalen Planens und Bauens generiert und über die IFC-Schnittstelle als offener Standard übertragen wurden. Der Materialpass ist aber nicht nur eine Liste. Er liefert auch Informationen darüber, wie gut das betreffende Gebäude rückgebaut werden kann: Welcher Rohstoff ist in welchem Bauteil verbaut? Wie kommt man an das gewünschte Material? In welcher Reihenfolge muss rückgebaut werden? Wie hoch ist der CO2-Wert des Materials?
Welche Vorteile bietet ein digitaler Materialpass?
Er ist die Grundlage, um Materialien und Bauteile hochwertig einzusetzen. Nur wenn ich weiß, was ich einsetze, kann ich das jeweilige Bauteil entweder komplett wiederverwenden oder die Materialien recyceln. Aufgrund der im Zusammenhang mit der ESG-Thematik (Anmerkung der Redaktion: Environmental Social Governance) geforderten Berichterstattung wird ein gut dokumentiertes Gebäude künftig zudem mehr wert sein als ein schlecht dokumentiertes. Wer ein Gebäude verkaufen möchte, wird dazu Informationen etwa in Bezug auf die Umweltverträglichkeit der verbauten Materialien Informationen mitliefern müssen. Darüber hinaus können die im Materialpass dokumentierten Informationen auch für Sanierungen und Umbauten genutzt werden. Sie erleichtern die jeweiligen Prozesse und helfen dabei, Geld zu sparen.
Können Sie ein Beispiel für den erfolgreichen Einsatz des Materialpasses in der Praxis nennen?
Das Büroensemble EDGE Südkreuz in Berlin wurde auf Madaster komplett dokumentiert, ebenso das noch im Bau befindliche The Cradle der Interboden Gruppe. Auch für die von der Art-Invest Real Estate Management Gmbh & Co. KG in Berlin entwickelte Macherei oder für das Hauptgebäude der Berlin Hyp AGgibt es bereits Materialpässe bzw. sie werden gerade erstellt. Auf der deutschen Plattform sind inzwischen etwa 100 Gebäude gelistet. Andere Länder sind sogar schon weiter: Die BPD Immobilienentwicklung wickelt in den Niederlanden pro Jahr durchschnittlich 1.000 Wohnungen ab, die an private Kunden verkauft werden – jede einzelne davon mit Materialpass.
Was ist Ihrer Ansicht nach wichtig, um digitale und nachhaltige Lösungen wie den Materialpass flächendeckend in der Branche zugänglich und nutzbar zu machen?
Drei Dinge sind dazu notwendig: Zum einen erfordert die flächendeckende Umsetzung ein Mindset, das sich auf diese neue Art des Planens und Bauens einlässt. Zum anderen ist es wichtig, Gebäude auch als Materialbanken zu verstehen, die wir in den jeweiligen Materialpässen auswerten. Und schließlich brauchen wir Regulierungen, entweder auf dem Weg über die Forderung, dass bei einem Gebäude der gesamte Lebenszyklus betrachtet wird, oder über die Forderung, dass mit einem Gebäude analog zum Energieausweis auch ein Materialpass mitgeliefert wird.
Schön wäre es in diesem Zusammenhang, wenn die öffentliche Hand mit gutem Beispiel vorangehen würde. Bis dato sind die meisten Projekte, die hierzulande auf Madaster gelistet sind, im privaten Bereich verortet. Unser Nachbarland Schweiz macht vor, wie Kreislaufwirtschaft besser funktioniert: Dort muss man bei jedem Neubauvorhaben schon heute begründen, warum man kein Recyclingmaterial einsetzt.
Herr Dr. Bergmann, vielen Dank für das Interview.
30.05.2022